Freitag, 6. Juli 2012

Dokumenta 13. Ein erster Rundgang.

Dokumenta13: Archiv – Reifenregal.


Die weltweit größte Ausstellung aktueller Kunst zu sein ist als Idee eine Gigantomanie.
Sie stammt aus dem Geist konzentrierter westlicher Konsum- und Machttradition, die, als Kunst adäquat gesellschaftlich gespiegelt, dort Ihren bisherigen Sinn bezogen hat. Diese wichtige Einsicht wird durchaus in der aktuellen Gesamtschau reflektiert. Sie macht sich ebenso in der tendenziellen Auslagerung der D13 nach Kairo, Banff und Kabul bemerkbar. Es formieren sich Gegengewichte. Künstlerisch, politisch und sozial.

Carolyn Christov-Bakargiev beginnt Ihren Aufsatz im „Das Buch der Bücher“ damit, daß das sogenannte Rätsel der Kunst darin bestehen würde, daß  „... wir nicht wissen was sie ist, bis sie nicht mehr das ist was sie war.“ Ein schlauer Satz? Oder doch ein Allgemeinplatz? Aus ihrem Verständnis heraus lässt sich auf jeden Fall erklären, welch' prägende Rolle zeitgeschichtliche Bezüge für Frau Bakargiev spielen mussten. Aber rätselhaft soll die Kunst wohl auch bei ihr sein dürfen.

Die Einbindung von Wissenschaft, Philosophie, Anthropologie und vielen anderen menschlichen Tätigkeitsfeldern ist folgerichtig, wenn es darum gehen soll, den Wendepunkten menschlichen Werdegangs zu einer Anschauung zu verhelfen. Aber waren das nicht bereits Forderungen von Joseph Beuys und anderer Künstlern seit den 1970er Jahren? Und ging die Frage nach einer möglicherweise „anthropologisch“ zu nennenden Kunst, eine, die sich über keine anderen Tätigkeiten erheben soll, nicht auch bereits von diesem Kraftfeld aus? Ist die Dokumenta 13 diejenige Ausstellung, bei der die Anthroposophie bei den Kuratoren angekommen ist? Oder geht es bei der ganzen Interdisziplinarisierung, um eine gezielte Einbindung der Kunst in den wissenschaftlichen Kosmos. Geht es gar um weltliche Anerkennung?
Die erste abgebildete Zeichnung (eine Mind-Map v. CCB; sic!) im Buch der Bücher und auch der Raum der Quantenphysik mit seiner übergrossen Kreidetafel erinnert sicherlich bewußt an Teile des Beuysschen Werks, respektive Steiners.
Der Ausstellungsansatz „menschliches Denken nicht hierarchisch über die Fähigkeiten mancher Dinge zu stellen“ (BdB, Seite 31) mutet dann überzogen bis rührend an: darum bemüht, keine mögliche Sichtweise außer acht zu lassen. Offenheit oder fehlende Perspektive?

Wer z.B. Kunst als manipulatives oder manipulierbares Archiv erkennt, wird als Künstler/Kurator oft genug seine Formfindung in diese Richtung laufen lassen. Jede Formfindung hat schließlich auch ihr System.
Bereits die Arbeit mit Archiven, Vernetzungen, Diagrammen, Speichern, Sammlungen und Mind-Maps wird demzufolge schon zum Reingewinn einer, global zu betrachtenden, Kunstauffassung. Der in Beirut geborene Tarek Atoui nutzt dieses Moment mit sehr positivem Beispiel, aber er hält sich bei der Präsentation an die Erfordernisse des Kunstmarktes, der ebenfalls ein manipulierbares Archiv darstellt: seine Maschinen sind in hochwertige, perfekte Schaukästen montiert. Etwas steril gewordene, unangreifbare Erinnerung an eine interaktive Sound-Performance.
Der Betrachter selbst wird auf der Dokumenta zum bespielten Zentrum einer wohlmeinenden und altbekannten Gesellschaftreflektion. Die zugehörige Selbsterfahrung wird in Form eines Mitmachspiels gleich mitgeliefert. Alles scheint so unglaublich berücksichtigt. Vielleicht weil der Gedanke einer unendlichen Ausweitung des bereits erweiterten Kunstbegriffs offenbar vollzogen scheint. Aber die Konsequenzen dieser Ausweitung werden kaum besprochen. Vielleicht zeigt sich hier kuratorische Zurückhaltung als auffächerndes, dienendes und nicht als meinungsbildendes Element?

Tatsächlich darf man sich nicht sicher sein, ob der Quantenphysiker Anton Zeilinger oder der Epigenetiker Alexander Taraskovsky eine ebenso große Offenheit gegenüber der Kunst verspürt, wie die Kunst, in Persona von Frau Bakargiev, für die Beschreibung der Welt durch die Physik oder die Wissenschaft aufbringt. Die Dokumenta ist diesmal ein fragendes Abbild dessen, was gesellschaftlich längst passiert scheint. Wir erleben kreative Misch-Formen als Manifestationen eines sich immer exzessiver öffnenden Kunstverständnisses: im Internet, in Blogs und second life längst ein alter Hut, wird diese Erweiterung mit historischen Komponenten neu verkoppelt und erhält dadurch einen erneut beschreibbaren Kunstkontext. De facto eine Rückholung. Irgendetwas muss ja hinein – in die vielen bespielbaren Gebäude der GmbH.

Der eben beschriebene Kunstkontext stützt und schützt die historisch zu nennende Kunstauffassung, die ein, sich wandelndes, Künstlerbild beinhaltend, vor der Leere oder gar der in Aussicht gestellten Löschung der Kunst (Kunst kann jedoch nicht verschwinden, Anm. des Autors). Was Kunst heute notwendig gebrauchen könnte, wäre eine Definition des Künstlerbildes, um die Kunst als Tabuzone der gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung endlich aufzuheben.
Das sollten Künstler solidarisch selbst tun. Manche sind in ihren Überlegungen eindeutiger als Frau Bakargiev.
Zum Beispiel die 1956 geborenen Claire Pentecoast, die auf Ihrer Website mit dem wegweisenden Titel THE PUBLIC AMATEUR Projekte fördert, die sich „ ... aus Motiven speisen, die über die eigene Karriere hinausweisen". In Pentecoast zeigt sich ein neuer Künstlertypus, der bereit ist, sich öffentlich und unter Zuhilfenahme alter und neuer künstlerischer Produktionsformen, mit Wertebegriffen und ihren möglichen Ausformungen auseinanderzusetzen. Aus demselben Grund sei auf das Kunst- und Blogprojekt „Der Künstler als Kritiker“ hingewiesen, das Sie soeben lesen.

Sich in Frage zu stellen ist ein Gebot der Stunde. Verantwortung zu übernehmen ist ein Gebot der Stunde. Dazu gehört offener Zugang zum Wissen und ein dezenter Wille zum Übergriff.


Eine Fahrt nach Kassel ist derzeit sehr empfehlenswert.
Aktuellste Kunst und Methoden substantieller Verschiebung sind dort vorzufinden.



©crschulz, duesseldorf, 5.7.2012


Mehr Vorträge, Lese-Performances, Filme des Künstlers:
Die Drift des Künstlerbildes.

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